Veranstaltung: | Landesmitgliederversammlung Limburg 2015 |
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Tagesordnungspunkt: | 6. Anträge |
Antragsteller*in: | Landesvorstand, Landtagsfraktion |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 25.09.2015, 14:54 |
6.17: Der NSU Untersuchungsausschuss ist kein Untersuchungsausschuss wie jeder andere – Für Grüne gilt: Erst aufklären, dann urteilen
Die Landesmitgliederversammlung möge beschließen:
1. Der NSU-Untersuchungsausschuss ist kein Untersuchungsausschuss wie jeder andere. Hier geht
es um Mord, um Terror und um die nach wie vor unfassbare Tatsache, wie diese Vorgänge so lange
passieren konnten, ohne dass man sie als das erkannt hat, was sie waren: Eine abscheuliche
rechtsextreme Terrorserie. Wir Grüne in Hessen sehen alle Fraktionen und alle am
Untersuchungsausschuss beteiligten Personen in der Pflicht aufzuklären und dafür Sorge zu
tragen, dass sich so etwas nie wieder wiederholen kann.
2. Vor dem Hintergrund dieser Einzigartigkeit des Untersuchungsausschusses gilt für uns der
Grundsatz „erst Aufklären, dann Urteilen“ in besonderem Maße. Wenn in diesem
Untersuchungsausschuss über die Frage von Verantwortung gesprochen wird, dann geht es um die
Verantwortung für Mord, für Terror und für das Versagen, diese Zusammenhänge rechtzeitig zu
erkennen. Bevor wir Schlüsse ziehen, Vorwürfe erheben, Verdächtigungen gegenüber Institutionen,
einzelnen Personen oder auch Politikern nahelegen, denken wir lieber zweimal statt einmal nach.
3. Wir sehen die gesellschaftliche Notwendigkeit, dass im NSU-Untersuchungsausschuss alle
Fraktionen konstruktiv und gemeinsam an der Aufklärung arbeiten. Parteipolitische Spielchen
lehnen wir vor dem Hintergrund der notwendigen Aufklärung dieser abscheulichen Mordserie ab.
Wir verwahren uns gegen den Vorwurf, dass unserer Landtagsfraktion nicht oder nur unzureichend
an Aufklärung gelegen wäre. Dieser Vorwurf ist anmaßend, ehrenrührig und zutiefst verletzend.
Vor allem aber ist er falsch: Wesentliche Impulse zur Aufklärungsarbeit in diesem
Untersuchungsausschuss kommen von uns Grünen.
4. Wir fordern die Landtagsfraktion auf, sich weiter für ein flexibles Verfahren bei neuen
Vorwürfen und Erkenntnissen im Untersuchungsausschuss einzusetzen. Dies dient der Aufklärung
und dem öffentlichen Interesse. So war es beispielsweise richtig, von der einvernehmlich
festgelegten zeitlichen Abfolge des Untersuchungsverfahrens abzuweichen, als in den Medien
Passagen eines Abhörprotokolls des Verfassungsschützers Andreas T. veröffentlicht wurden.
Dadurch konnte eine eigene Bewertung der Vorgänge mittels der Audiodateien und Vernehmungen der
beteiligten Personen durch die Ausschussmitglieder sichergestellt werden. Dies gilt auch für
das Vorgehen, nachdem es zu erneuten Unstimmigkeiten kam, inwiefern die Reihenfolge der bisher
geplanten Anzuhörenden für die Aufklärung geeignet ist. Durch die einstimmige Veränderung der
Terminplanung wird nun in den aktuell stattfindenden Sitzungen der Tathergang im Fall des
Mordes an Halit Yozgat näher beleuchtet. In den darauf folgenden Sitzungen werden eine Reihe
von Vertretern des Hessischen Landesamts für Verfassungsschutz sowie Personen aus der
rechtsextremistischen Szene Hessens als Zeugen gehört werden, um näher zu beleuchten, welches
Vorwissen hessische Behörden zum NSU hatten. Vor diesem Hintergrund weisen wir die von anderen
Fraktionen wiederholt erhobenen Vorwürfe der Verfahrensverzögerung zurück.
5. Nach wie vor besteht bei uns die Sorge, dass durch den Untersuchungsausschuss Erwartungen
geweckt werden, die nicht erfüllt werden können und die Opferfamilien erneut enttäuscht
zurückbleiben könnten. Denn es ist durchaus fraglich, ob der hessische Untersuchungsausschuss
angesichts der abgeschlossenen Untersuchungsausschüsse im Bund und einigen Bundesländern sowie
dem laufenden NSU-Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe in München tatsächlich Antworten auf die
Fragen liefern kann, die bislang nur unbefriedigend beantwortet sind. Gerade vor diesem
Hintergrund gilt es, ebenso engagiert wie sensibel in der Aufklärungsarbeit vorzugehen und
keine falschen Hoffnungen zu wecken.
6. Wir bedauern, dass durch die ursprüngliche Enthaltung der Koalition aus CDU und GRÜNEN zur
Einsetzung des Untersuchungsausschusses bei einigen der falsche Eindruck entstanden ist, es
mangele an Interesse an der Aufklärung. Darum ging es zu keinem Zeitpunkt. Strittig war nicht
das „Ob“ der Aufklärung, sondern lediglich das „Wie“. Bereits in der letzten Legislaturperiode
– also vor GRÜNER Regierungsbeteiligung – hat der Landtag darüber debattiert, wie die
Aufklärung am besten vorangetrieben werden könnte. SPD und Grüne verfügten gemeinsam über die
nötige Stimmenzahl, um einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu können. Beide Fraktionen waren
sich damals jedoch einig, dies nicht zu tun, weil eine Expertenkommission besser als ein
Untersuchungsausschuss geeignet ist. Die Grünen blieben am Anfang dieser Legislaturperiode bei
dieser Meinung, anfänglich auch die Fraktion der SPD. Es war notwendig und richtig, dass diese
Enthaltung angesichts neuer Entwicklungen als Fehler von Seiten der Koalition bezeichnet wurde
und beide Partner den Untersuchungsauschuss als ausdrücklich richtig bezeichnet haben.
7. Wir begrüßen neben der Einsetzung des Untersuchungsausschusses auch die Einsetzung der
Expertenkommission Verfassungsschutz unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesverfassungsrichters
Professor Jentsch. Diese überparteiliche Kommission wurde von der schwarz-grünen
Landesregierung einberufen und arbeitet Handlungsempfehlungen auf, die der NSU-
Untersuchungsausschuss des Bundestags zur rechtsterroristischen Mordserie gegeben hatte. Wir
sind erfreut, dass die Expertenkommission Hessen ein positives Zwischenzeugnis bei der
Umsetzung der Handlungsempfehlungen ausgestellt hat. Gleichzeitig erwarten wir von der GRÜNEN
Landtagsfraktion, bei diesen Anstrengungen nicht nachzulassen.
8. Wir sind äußerst besorgt über die hohe Zahl der Straftaten mit rechtsextremistischem
Hintergrund. Insbesondere die jüngsten Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte erfüllen uns mit
Entsetzen. Wir werden einer solchen Gewalt immer und überall klar und entschieden
entgegentreten. Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, damit junge Menschen erst gar
nicht in Kontakt mit solchen rechtsextremistischen Ideologien kommen. Es ist gut, dass die
langjährige GRÜNE Forderung eines eigenen Landesprogramms zur Prävention durch die Grüne
Regierungsbeteiligung endlich Realität wurde. Auch die Landesförderung des Demokratiezentrums
an der Philipps-Universität Marburg unter Leitung von Prof. Benno Hafeneger stärkt den Einsatz
gegen Rechtsextremismus. Beratung vor Ort nach rechtsextremistischen Vorfällen und
Ausstiegsberatung aus rechtsextremen Gruppen sind von hoher Bedeutung für unsere Gesellschaft.
Begründung
Mit den Veröffentlichungen der „Welt am Sonntag“ von Ende Februar 2015 haben sich neue Fragen gestellt und es erscheinen bekannte Sachverhalte in einem neuen Licht. Wir arbeiten im Untersuchungsausschuss daran, das alles aufzuklären. Das geht nur nach Lektüre der Akten und Befragung der Zeugen. Was wir nicht tun werden ist, zu spekulieren oder Urteile zu fällen, bevor wir aufgeklärt haben. Denn für uns gilt: erst aufklären, dann urteilen. Zum jetzigen Zeitpunkt – Stand: Mitte September 2015 – können wir deshalb auf der Grundlage der jetzt vorliegenden Informationen nur Einschätzungen abgeben bzw. beschreiben, was wir aufklären wollen:
1. INHALTLICHE ARBEIT DES UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSSES
Wie lautet der Auftrag des hessischen Untersuchungsausschusses?
Der Untersuchungsausschuss hat den Auftrag, umfassend aufzuklären, in welcher Weise die hessischen Gerichte, Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden auf der Landesebene und mit den Bundesbehörden und anderen Länderbehörden in Zusammenhang mit der Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat und der NSU-Mordserie zusammengearbeitet haben und welche Fehler bei der Aufklärung der NSU-Morde in Hessen im Rahmen der Ermittlungsarbeit und des Zusammenwirkens der Sicherheitsbehörden begangen wurden.
Legt das Zitat „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren“, nicht nahe, dass Andreas T. und der Verfassungsschutz von dem Mord gewusst haben?
Ja, das Zitat legt für sich genommen diesen Schluss nahe. Wichtig ist jedoch, den gesamten Kontext dieser Äußerungen zu kennen und ggf. auch Zeugen danach zu befragen. Erst dadurch lässt sich besser einschätzen, was wirklich passiert ist, ob und wer etwas gewusst hat. Genau das hat der Untersuchungsausschuss getan. Die Aussagen der Zeugen vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in der öffentlichen Sitzung vom 11. Mai 2015 und das Abspielen der über das gesamte Telefonat gefertigten Audiodatei in der gleichen Sitzung haben eine solche Vermutung nicht bestätigt. Es spricht vieles dafür, dass es sich bei diesem Satz um den Versuch eines missglückten und völlig unpassenden Scherzes gehandelt hat. Weil auch die Beamten der Sonderkommission der Polizei – MK Café – dies seinerzeit so gesehen hatten, verzichteten sie darauf, unter anderem diesen Satz wörtlich zu protokollieren. Dies hat die als Zeugin vom UNA vernommene Polizeibeamtin, die seinerzeit die Protokollierung vorgenommen hatte, ausgesagt. Und Bundesanwalt Dr. Diemer, der die Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft gegen den NSU seit November 2011 leitet, hat auf Frage nach einer möglichen Mitwisserschaft des Hessischen Verfassungsschutzes wörtlich ausgesagt: „Dazu haben wir keine Erkenntnisse. Denn Sie müssen sich das mal vorstellen. Wir hätten den Laden auf den Kopf gestellt. Das muss man mal sehen. Wir könnten doch niemals die Augen verschließen. Ich persönlich würde niemals die Augen verschließen, egal welche Behörde es ist, wenn irgendjemand da in einer strafbaren Weise mitgewirkt hätte. Das ist für mich unvorstellbar. Deswegen: Wenn wir welche gehabt hätten, dann hätten wir die auf den Stuhl gesetzt. Da bin ich ganz sicher.“
Ist es nicht merkwürdig, wie vertraut und mit welcher Wortwahl die Mitarbeiter des Verfassungsschutz mit Andreas T. gesprochen haben?
Beim Lesen der veröffentlichten Telefonabhörprotokolle kann einem schon die Galle hochkommen über die Art, wie hier über einen Mord gesprochen wird. Nicht nur der Journalist Dirk Laabs fragt sich: „Wo war die Wut?“ Man könnte auch noch ergänzen: Wo war das Entsetzen über den Mord, wo das Mitgefühl mit dem Opfer und seiner Familie? Auch in der öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 11. Mai 2015 zeigten sich die beiden Zeugen – die Teilnehmer des fraglichen Telefonats – diesbezüglich verhalten bis reserviert. Ob allerdings aus einem – tatsächlichen oder vermeintlichen – Mangel an Mitgefühl der Zeugen geschlossen werden kann, sie seien zumindest Mitwisser eines Mordes, halten wir für zweifelhaft.
Wirken die Erklärungen von Andreas T. nicht unglaubwürdig?
Sie lösen mehr Fragen als Antworten aus. Deshalb war das Verhalten von Andreas T. bereits Gegenstand des Untersuchungsausschusses des Bundestags und des NSU-Prozesses in München. Auch stand Andreas T. zeitweise unter Mordverdacht und wurde deshalb von der Polizei vernommen. Die bisherigen Untersuchungen haben keine anderen beweisbaren Erklärungen gebracht. Wir werden anhand der neuen Erkenntnisse erneut versuchen zu klären, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat wie beschrieben. Nicht zuletzt aus diesem Grund gehört Andreas T. nach einhelliger Einschätzung aller Ausschussmitglieder zu denjenigen Zeugen, die voraussichtlich noch mehrfach vor dem Untersuchungsausschuss werden aussagen müssen.
Warum ist Andreas T. weiter im Landesdienst?
Da das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wurde, gilt er als unschuldig. Daher gibt es nach unserem derzeitigen Erkenntnisstand keine Rechtsgrundlage, seine Tätigkeit als Beamter im Landesdienst zu beenden.
Hat sich der damalige Innenminister persönlich um die Lohnfortzahlung von Andreas T. gekümmert?
Nach unserer derzeitigen Erkenntnis ging es um die Frage der Suspendierung von Andreas T. von seinen Tätigkeiten beim Verfassungsschutz. Volker Bouffier hat in einer Stellungnahme vor der Presse am 24. Februar 2015 unter Verweis auf die Rechtslage ausgeführt, dass auch ein vorläufig vom Dienst suspendierter Beamter trotzdem sein Gehalt bekomme. Dass T. nicht mehr im Landesamt für Verfassungsschutz tätig sein konnte, sei klar gewesen, und darüber habe er auch eine Besprechung mit Mitarbeitern gehabt. Eine Suspendierung habe er ausdrücklich für richtig gehalten.
Welche Beschränkungen hat der damalige Innenminister Bouffier im Jahr 2006 für die Befragung der V-Leute durch die Polizei gemacht?
Die von Andreas T. geführten V-Leute durften wegen einer so genannten Sperrerklärung nicht von der Polizei selbst vernommen werden. Das Angebot des Verfassungsschutzes an die Polizei, an einer Befragung der V-Leute teilzunehmen, hatte die Kripo vorher abgelehnt. Der Verfassungsschutz hat dann den Fragenkatalog der Polizei abgearbeitet und die Ergebnisse der Befragung der Kripo übermittelt, woraufhin die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren eingestellt hat. Innenminister Bouffier hat die Sperrerklärung auf einen Vorschlag der zuständigen Fachabteilung gestützt.
Besteht diese beschränkte Aussagegenehmigung noch heute fort?
Eine Aussagegenehmigung ist für jeden konkreten Fall neu zu erteilen. Das gilt auch für „abgeschaltete“ V-Leute wie etwa Benjamin G. Das bedeutet, dass auch eine eventuelle Vernehmung der V-Leute im UNA die vorherige Erteilung einer Aussagegenehmigung voraussetzt.
Warum wurden die Tonbänder der Telefonüberwachung von Andreas T. nicht vollständig protokolliert und warum war dies nicht schon vorher bekannt?
Es ist bei Telefonüberwachungen üblich, dass die angefertigten Audiodateien nur insoweit verschriftlicht werden, als es aus Sicht der Polizei für die Ermittlungen relevant ist. Häufig werden Telefonate deshalb in nur wenigen Stichworten zusammengefasst oder nur ausschnittsweise wörtlich wiedergegeben. Im Strafverfahren hat deshalb jeder Verfahrensbeteiligte die Möglichkeit, die Audiodateien im Ganzen abzuhören. Hiervon hat auch der UNA 19/2 Gebrauch gemacht. Er hat sich, trotz rechtlicher Bedenken (Persönlichkeitsschutz), dafür entschieden, das Telefonat in öffentlicher – und nicht in geheimer – Sitzung abzuspielen, damit auch interessierte Zuhörer und Zuhörerinnen sich einen unmittelbaren Eindruck von der Gesprächssituation und -atmosphäre machen konnten.
Hat sich Andreas T. zum Zeitpunkt des Mordes im Internetcafé aufgehalten?
Das steht nach den bisherigen Erkenntnissen nicht sicher fest. Die Ermittlungsbehörden gehen von zwei möglichen Szenarien aus. Es könnte sein, dass Andreas T. zum Tatzeitpunkt noch im Internetcafé war. Eine Variante wäre aber auch, dass er das Internetcafé kurz vor dem Mord verlassen hat. Dieser Frage werden wir im UNA in den nächsten Wochen nachgehen.
Besteht gegen Andreas T. heute noch ein Tatverdacht?
Nein. Nach Übernahme des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt im November 2011, in welchem auch der Mord an Halit Yozgat noch einmal ganz neu aufgerollt wurde, haben sich keine neuen Verdachtsmomente gegen Andreas T. ergeben. Dies hat der Bundesanwalt Dr. Diemer als Zeuge gegenüber dem Untersuchungsausschuss eingehend erläutert. Auch der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags vom August 2013 spricht ausdrücklich davon, dass der Tatverdacht gegen Andreas T. ausgeräumt sei. In diesem Punkt waren sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages einig. Offen ist, ob sich Andreas T. zum Zeitpunkt des Mordes noch in dem Internetcafé aufgehalten hat oder ob er es schon verlassen hatte.
Welche Rolle spielt der von Andreas T. geführte V-Mann Benjamin G. alias „Gemüse“?
Das ist eine der Fragen, die sich dem UNA stellen. Bis dato galt er als unbedeutende Randfigur. Das hat noch Anfang März 2015 ein Sachverständiger auch gegenüber dem UNA so gesagt. Zuletzt wurde allerdings in den Raum gestellt, dass Benjamin G. dem engeren Unterstützerkreis des NSU zugehört haben könnte. Für diese These gibt es aber bislang keine objektiven Anhaltspunkte. Tatsache ist, dass die Bundesanwaltschaft ihn deswegen nicht vor dem OLG München angeklagt hat. Tatsache ist auch, dass die Bundesanwaltschaft in einem gegenwärtig außerhalb des NSU-Prozesses geführten neuen Ermittlungsverfahren gegen mögliche Unterstützer des NSU oder sonstige Kontaktpersonen weder Ermittlungen gegen Benjamin G. noch gegen andere Personen aus Hessen führt. Dies hat, auf Nachfrage des GRÜNEN-Obmanns im UNA 19/2, Bundesanwalt Dr. Diemer als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss ausdrücklich festgestellt. Gleichwohl wird der UNA alles daransetzen, auch hier für weitere Aufklärung zu sorgen. Dies wird unter anderem durch eine Zeugenbefragung des Benjamin G. voraussichtlich im Dezember 2015 erfolgen, die der UNA auf Antrag der Regierungskoalition einstimmig beschlossen hat.
Steht der V-Mann Benjamin G. alias „Gemüse“ unter Polizeischutz?
Der hessische Innenminister Peter Beuth hat am 12. März 2015 vor dem Innenausschuss darauf hingewiesen, dass in einem Zeitungsartikel vom 28. Juni 2012 der vollständige Name des V-Mannes Benjamin G. veröffentlicht worden war. Damit habe die Gefahr bestanden, dass sich Rechtextremisten, über die G. dem Verfassungsschutz Informationen geliefert hatte, an diesem würden rächen wollen. Daher habe das Landeskriminalamt eine Gefährdungseinstufung vorgenommen und Benjamin G. ein Notfallcodewort zugewiesen. Dieses Codewort kann Benjamin G. angeben, wenn er bei der Polizei anruft. Dies ermöglicht der Polizei eine sofortige Zuordnung; weitergehende Rechte sind damit nicht verbunden. Bei einer solchen Maßnahme wird deshalb nicht von Polizeischutz gesprochen.
Gab es ein Netzwerk von Unterstützern des NSU in Hessen?
Dazu gibt es nur einander widersprechende Mutmaßungen von Zeugen und Sachverständigen im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags, aber keine konkreten Kenntnisse. Tatsache ist, dass die Generalbundesanwaltschaft, wie ein Vertreter dieser Behörde gegenüber dem UNA ausgesagt hat, aktuell – außerhalb des Prozesses gegen Beate Tschäpe und ihre Mitangeklagten – strafrechtliche Ermittlungen in diese Richtung führt, ohne dass bislang belastbare Indizien über weitere Helfer oder Mitwisser des NSU in Hessen oder in anderen Bundesländern zutage getreten wären. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags wird sich in den kommenden Monaten diesem Thema eingehend widmen, indem er eine Reihe von Mitarbeitern des hessischen Verfassungsschutzes sowie Personen aus der rechten Szene vernehmen wird. Entsprechende Beweisanträge sind bereits beschlossen worden.
2. WELCHE NÄCHSTEN SCHRITTE HAT DER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS FÜR DIE AUFKLÄRUNG VEREINBART?
Nachdem der UNA 19/2 zuletzt Vertreter nicht-hessischer Behörden zu den anderen NSU-Morden befragt hat, wird in den beiden Sitzungen am 14. September und 12. Oktober der Tathergang im Fall des Mordes an Halit Yozgat näher beleuchtet werden. In den darauf folgenden Sitzungen werden zum Thema „Vorwissen hessischer Behörden zum NSU“ eine Reihe von Vertretern des Hessischen Landesamts für Verfassungsschutz sowie Personen aus der rechtsextremistischen Szene Hessens als Zeugen gehört werden (s.o.). Diese Terminplanung hat der Untersuchungsausschuss einstimmig beschlossen.
3. VORGESCHICHTE: DAS RICHTIGE INSTRUMENT ZUR AUFKLÄRUNG: UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS, EXPERTENKOMMISSION, SONDERAUSSCHUSS?
• Bereits in der letzten Legislaturperiode – also vor unserer Regierungsbeteiligung – gab es im Landtag eine Debatte darüber, wie die Aufklärung am besten vorangetrieben werden könnte. SPD und Grüne verfügten gemeinsam über die nötige Stimmenzahl, um einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu können. Beide Fraktionen waren sich damals jedoch einig, dies nicht zu tun, weil eine Expertenkommission besser geeignet ist als ein Untersuchungsausschuss. Zitat Nancy Faeser (SPD) aus der gemeinsamen Presseerklärung von SPD und GRÜNEN vom 10. September 2013: „Wir wollen deshalb diese Ergebnisse anhand der vom Berliner Untersuchungsausschuss zur Verfügung gestellten Akten und Unterlagen durch eine landeseigene Kommission analysieren lassen.“
• Nach der Wahl haben wir unsere Forderung nach einer Expertenkommission in die Koalitionsverhandlungen mit der CDU eingebracht und im Koalitionsvertrag verankert. Wir haben also in der Regierung umgesetzt, was wir in der Opposition angekündigt haben und nicht etwa unsere Position verändert.
o Auch die SPD war noch zu Beginn dieser Legislaturperiode der Meinung, dass eine Expertenkommission einem Untersuchungsausschuss vorzuziehen ist:
„Deswegen ist es unserer Auffassung nach auch in Hessen erforderlich, sich diesen parteiübergreifend vom Deutschen Bundestag festgestellten Ergebnissen und Bewertungen [gemeint ist der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bundestags] zu stellen. Dies kann am besten durch eine vom Landtag eingesetzte Kommission geschehen, die anhand der von Hessen dem Untersuchungsausschuss in Berlin zur Verfügung gestellten Akten und Unterlagen die Geschehnisse in Hessen aufarbeitet, analysiert und Handlungsempfehlungen entwickelt." (Schreiben des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel vom 29. Januar 2014 an alle Fraktionsvorsitzenden).
o „Auch die von der Fraktion DIE LINKE vorgeschlagene alleinige Aufarbeitung begangener Fehler innerhalb der Sicherheitsbehörden im Rahmen eines Untersuchungsausschusses erachten wir als nicht ausreichend.“ (Schreiben des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel vom 25. Februar 2014 an alle Fraktionsvorsitzenden).
• Ende März 2014 brachte die SPD dann den Vorschlag eines Sonderausschusses in die Debatte: „Nach gründlicher Überlegung sind wir zu dem Schluss gekommen, dass eine solche breite und allumfassende Behandlung der NSU-Morde im Rahmen eines Sonderausschusses gemäß § 51 GOHLT sinnvoll ist.“ (Schreiben des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel vom 27. März 2014 an alle Fraktionsvorsitzenden)
• Erst danach forderte die SPD einen Untersuchungsausschuss.
• Es wurde also das Für und Wider verschiedener Instrumente abgewogen. Es ging nie um das „Ob“ der Aufklärung, sondern lediglich um das „Wie“. Die SPD hat zu unterschiedlichen Zeiten alle Instrumente (Expertenkommission, Sonderausschuss und schließlich Untersuchungsausschuss) als für die Aufklärung geeignet angesehen. Das werfen wir ihr nicht vor. Umgekehrt sollte aber nicht der Eindruck erweckt werden, als seien alle Instrumente jenseits des Untersuchungsausschusses für die Aufklärung ungeeignet bzw. als wollten diejenigen, die für ein anderes Instrument sind bzw. waren, gar keine Aufklärung.
• Wir GRÜNE haben uns in der Opposition für eine Expertenkommission eingesetzt und diese in der Regierung umgesetzt, weil wir sie für das geeignete Instrument der Aufklärung gehalten haben. Deshalb haben wir uns bei der Einsetzung des Untersuchungsausschusses enthalten. Mit dem, was wir heute wissen, sagen wir aber auch: Es ist gut, dass wir die Expertenkommission UND den Untersuchungsausschuss haben.
4. DIE BISHERIGE ARBEIT DES UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSSES:
• Der UNA wurde am 22. Mai 2014 durch den Landtag eingesetzt.
• Bei seiner ersten Sitzung am 1. Juli 2014 legte die SPD einen umfangreichen Beweisantrag zur Anforderungen von Akten und Unterlagen vor, der in der 2. Sitzung am 16. Juli beschlossen wurde. Wir haben darauf hingewiesen, dass der Beweisantrag für die Behörden, die die Unterlagen zur Verfügung stellen müssen, schwierig umzusetzen sein könnte, da er teilweise unpräzise formuliert war.
• In der dritten Sitzung am 10. September 2014 informierte der Ausschussvorsitzende, dass mehrere Stellen, bei denen Akten angefordert wurden, mitgeteilt haben, dass sie den Beweisantrag der SPD in dieser Form nicht bearbeiten können, weil er teilweise zu unpräzise formuliert sei. Zu diesen Stellen gehörten der Bundesjustizminister, Heiko Maas (SPD), und das Oberlandesgericht München, vor dem die NSU-Morde verhandelt werden.
• In der vierten und fünften Sitzung am 22. und 25. September 2014 verständigte man sich darauf, dass mit den Stellen, die mitgeteilt haben, dass sie den Beweisantrag in dieser Form nicht bearbeiten können, Gespräche geführt werden, um eine Übersendung der Akten zu erreichen. Außerdem wurde von allen Fraktionen die Anforderung der auf Hessen bezogenen Akten des Bundestagsuntersuchungsausschusses beschlossen.
• In der sechsten Sitzung am 14. Oktober 2014 verständigte sich der Ausschuss auf Grundlage eines Vorschlags der Regierungsfraktionen mit den Stimmen aller Fraktionen auf die Strukturierung und einen Ablaufplan für seine Arbeit.
• Wir und nicht etwa die Opposition haben den Vorschlag für eine stringente Arbeitsweise des Ausschusses gemacht.
• Nach Abschluss der Gespräche mit den Stellen, die mitgeteilt haben, dass sie den Beweisantrag in dieser Form nicht bearbeiten können, beschließt der Ausschuss in seiner siebten Sitzung am 17. Dezember 2014 einstimmig eine Änderung des ursprünglichen SPD-Beweisantrags.
• Somit hat der Beweisantrag der SPD erst seit Ende 2014 erstmals eine Form, die die Stellen, bei denen die Akten angefordert wurden, auch bearbeiten können.
• Es folgten im Jahr 2015 weitere Sitzungen, in denen erste Sachverständige gehört wurden.
• Nach der Veröffentlichung von neuen Erkenntnissen durch die „Welt am Sonntag“ am 22. Februar 2015 beschloss der Ausschuss in seiner 13. Sitzung am 2. März 2015 die Anforderung der in dem Artikel erwähnten Unterlagen und Tonbänder beim Oberlandesgericht München. Der Innenminister teilte in der Landtagssitzung vom 5. März 2015 mit, dass er diesen Auftrag umgesetzt hat und das Oberlandesgericht München die Materialien übersenden wird. In der nichtöffentlichen Sitzung vom 16. März 2015 wurde dann – bei Enthaltung der LINKEN – der zuvor eingebrachte Beweisantrag Nr. 24 der Regierungsfraktionen beschlossen, wonach die Zeugen H. und T. über die Hintergründe des fraglichen Telefonats vernommen werden sollten. In der Sitzung am 20. April 2015 wurde dann – wiederum ohne die Stimmen der LINKEN und in Abweichung von der verabschiedeten Arbeitsstruktur – beschlossen, dass die Vernehmung dieser Zeugen und das Abspielen des Telefonats am 11. Mai 2015 stattfinden sollte, was dann auch in öffentlicher Sitzung und unter zahlreicher Teilnahme von Zuschauern und Zuschauerinnen, die sich dabei selbst einen Eindruck verschaffen konnten, geschah.
• Klar formulierte Beweisanträge mit überschaubarem Umfang werden also schnell umgesetzt.
• Bislang (Stand: Anfang September 2015) wurden insgesamt 36 Beweisanträge eingebracht. Davon wurden 16 von den Regierungsfraktionen eingebracht, 19 von den Oppositionsfraktionen und einer gemeinsam von allen. Bislang wurde kein Beweisantrag abgelehnt. Soviel zum Vorwurf, wir würden uns an der Aufklärung nicht beteiligen.
• In den Sitzungen vor der Sommerpause hat sich der Ausschuss nach eingehenden Erörterungen einvernehmlich auf die weitere Verfahrensweise bei der Ausschussarbeit, insbesondere über die Reihenfolge weiterer Zeugenvernehmungen, geeinigt sowie, ebenfalls einvernehmlich, einen vorläufigen Terminplan für das Jahr 2016 erstellt. Die Regierungsfraktionen haben von der ihnen grundsätzlich zustehenden Möglichkeit, den Ablauf des Verfahrens im Untersuchungsausschuss mehrheitlich zu beschließen (sogenannte Verfahrensherrschaft der Ausschussmehrheit), keinen Gebrauch gemacht. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass eine Verständigung über das Verfahren eine Grundvoraussetzung für eine umfassende Sachaufklärung durch den NSU-Untersuchungsausschuss ist. Dass es auf dem Weg hin zu einer solchen Verständigung auch mal zu Unstimmigkeiten zwischen den Fraktionen kommen kann, liegt in der Natur der Sache.
5. VERSUCHE DER GESCHICHTSKLITTERUNG:
• Obwohl wir unsere Position nach dem Wechsel von der Opposition in die Regierung nicht geändert haben und nachdem wir angesichts der neuen Erkenntnisse erklärt haben, dass wir den Untersuchungsausschuss ausdrücklich richtig finden, wirft uns der Landes- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, vor, wir wollten nicht aufklären. Er versteigt sich sogar dazu, uns Grünen im Zusammenhang mit der Aufklärung der NSU-Morde der „Komplizenschaft“ zu bezichtigen (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 27. Februar 2015). Was für eine erschreckende Entgleisung: Das Wort „Komplizenschaft“ im Zusammenhang mit der Aufklärung von Mord und Terror.
• Im gleichen Interview wird erklärt, das Thema NSU-Aufklärung sei der wichtigste Punkt bei den Sondierungsgesprächen zwischen CDU und SPD Ende 2013 gewesen und eine große Koalition sei maßgeblich auch deshalb nicht zu Stande gekommen. Fakt ist hingegen, dass das Thema NSU im offiziellen Bericht der SPD über die Sondierungsgespräche kein einziges Mal vorkommt (http://gruenlink.de/wgh) und die SPD in der Pressemitteilungen http://gruenlink.de/wgg) zu dem Bericht ausdrücklich „Chancen auf eine Einigung“ mit der CDU sah.
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• Wer so agiert wie teilweise die hessische SPD, der muss sich die Frage stellen, ob es ihm nur um Aufklärung geht oder auch um dem Thema völlig unangemessene Parteipolitik.
Unterstützer*innen
- Priska Hinz (KV Lahn-Dill)
- Jo Dreiseitel (KV Groß-Gerau)